Physical narratives: Begehbare Geschichten von Time’s Up – Ars Electronica 2017
Von Katharina Stein
Der Begriff physical narratives klingt erst mal nach einem neuen Buzzword für eine alte Feststellung: jeder Raum, jedes Event erzählt eine Geschichte – oder sollte es im Idealfall tun. Doch das Künstlerkollektiv Time’s Up meint mit ihren begehbaren Welten schon etwas anderes. Sie gestalten räumliche Situationen, „in die man hineinspaziert, als ob Leute gerade davongegangen wären“. Von Menschen hinterlassene Gegenstände und Spuren erzählen z.B. von einem möglichen Zukunftsszenario. Die Künstler bieten den Betrachtern an, selbst herauszufinden, was vorgefallen ist, in welcher Welt diese Menschen leben, was die Geschichte dahinter ist. Eine äußerst spannende Idee, um Themen sehr emotional, realitätsnah und interaktiv zu verdeutlichen!
Interaktives Erkunden
Besonders wichtig ist den Künstler, dass die Objekte erkundet, berührt und durchsucht werden. Die Themen und Geschichten sollen vom Besucher aktiv erarbeitet, erforscht werden. Gerade im klassischen Kunstkontext, in dem man normalerweise nichts berühren darf, stellt das eine Hemmschwelle dar. Doch einmal überwunden, „gibt es oft kein Ende“, berichtet die Künstlerin Tina Auer in einem Interview im Ars Electronica Blog. „Wir haben bemerkt, dass nur zur Zierde oder zur Deko gar nichts stehen darf, weil wirklich alles erforscht und untersucht wird. Das ist spannend, dieser Punkt, an dem die Leute tatsächlich eintauchen und reinkippen. Es entstehen dadurch teilweise wirklich sehr lange Aufenthaltszeiten.“
Eine Reaktion, die man sich bei verschiedensten Eventformaten wünscht, aber eher selten erreicht: einmal hineingezogen möchten Menschen aktiv mehr erfahren, bleiben von sich aus dran und setzen sich möglichst lange mit einem Thema auseinander.
Emotionales Verinnerlichen
Spannend ist zudem wie sehr Menschen eine solche Situation verinnerlichen, sich in die Geschichten hineinfühlen. Tim Boykett erzählt: „Wir hatten auch ein Beispiel, wo ein Sturm nachgestellt wurde. Leute waren in diesem Raum, haben den Sturm erlebt und sagten beim Aufstehen: ‚Ach, ich hab meinen Regenschirm nicht mit!‘ Draußen schien die Sonne. Die haben völlig vergessen, dass es ein ganz normaler Sommertag war.“
Gerade um Inhalte oder Aussagen bestmöglich zu verdeutlichen, stoßen sachliche Erklärungen schnell an ihre Grenzen. Wir wissen zum Beispiel, dass unser aktuelles Konsum- und Lebensverhalten schlecht für die Umwelt ist. Trotzdem ändern wir nichts. Solche interaktiv erlebbaren Szenarien, die das Leben in einer zukünftigen Welt realitätsnah vermitteln, erreichen uns auf emotionalem und daher oft viel wirkungsvollerem Wege.
Der große Vorteil von solchen physical narratives – im Vergleich zu klassischen Versuchen Inhalte zu kommunizieren – ist meiner Meinung nach, dass Themen oder Aussagen besser verstanden oder verinnerlicht werden. Der Spieltrieb, die Neugier, die aktive Auseinandersetzung und eine bessere und emotionalere Verinnerlichung werden angeregt. Ein sehr guter und anderer Ansatz – auch für Ausstellungen und Events!
„Turnton Docklands“ auf der Ars Electronica
Zu sehen ist eine der neuesten Arbeiten von Time’s Up auf der Ars Electronica vom 7. bis 11. September 2017. Dort erwartet die Besucher die physical narrative „Turnton Docklands“. Eine Mischung aus „Umweltdystopie, Gesellschaftsideal und schaurigem Zukunftsszenario“, das die Besucher erkunden können.
Aus zukünftigen Entwicklungen und dem aktuellen Wissensstand über unsere Ozeane wurde ein Modell einer kleinen Stadt entwickelt, die sich durch diese Entwicklungen verändert hat, um ein Beispiel dafür zu werden, wie eine mögliche Zukunft sein könnte.