Time's Up und Narration
Immer noch die besten Geschichten: Die schreibt das Leben, das sich mit seinen Stories seine eigene Wahrheit erschafft. Das Erzählen ist eng mit der Wahrheit verwandt. Wer weiß, vielleicht sind die Beiden Schwestern? Erzählen dient, wohl nicht immer, der Wahrheitsfindung. Auch darin, dass eine Geschichte im wiederholten Erzählen zu ihrer wahren Form findet und man sich im Erzählen erst im Lauf der Zeit nach und nach auf eine Wahrheit des Erzählten einigt. Bis man schließlich mit Überzeugung sagen kann: So ist es gewesen. Da kann es auch geschehen, dass sich die Wahrheit der Erzählung in den Weg zu stellen sucht. In solch einem Fall hält es Time's Up mit Mark Twain, der sich selbst und alle anderen GeschichtenerzählerInnen zur Wahrung eines beherzigenswerten Erzählprinzips angehalten hat: *Never let the truth get in the way of a good story.* Oder gleich, noch radikaler, mit dem indigenen Schriftsteller und Poeten Simon Joseph Ortiz: *There is no truth, there are only stories* – in denen allerdings oft genug die eine und andere Wahrheit steckt.
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Wie sich hier schon andeutet, ist das Verhältnis von Narration und Wahrheit zwar ein geschwisterliches, doch kein einfaches. Seit sich das Wissen über die Vorgänge im menschlichen Gehirn mehrt und vertieft, ist bekannt, dass Erinnern und Erfinden für das Gehirn identisch sind. Sprich: Eigentlich ist der Versuch, eine Begebenheit möglichst wahrheitsgetreu aus dem Gedächtnis aufzurufen, die Mühe gar nicht wert. Ebenso gut kann man die Anekdote gleich frei rekonstruieren.
Das ist eigentlich gar nicht so schwer. Die Gabe des Geschichtenerzählens ist eine urmenschliche. Der homo sapiens ist auch ein homo ludens und ein homo narrans, wie sich ja an den Menschen im Kreis von Time's Up überzeugend zeigen lässt.
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Vermutlich seit es Sprache auf entsprechendem Niveau gibt, versuchen wir Menschen mit Geschichten die Welt zu verstehen und zu erklären. Geschichten sind der eigentliche Webfaden, der das feine Gespinst menschlicher Gesellschaften und Kulturen zusammenhält. Geschichten sind Weltverzauberstücke. Sie nähren die Seele und den Geist, unterhalten, speichern Wissen und sind so wie die Story Worlds der begehbaren Zukunftsnarrative von Time's Up auch dann wahr, wenn ihr Charakter spekulativ ist.
*Genug der Projekte – wir brauchen Wirklichkeiten*, hat der Architekt, Künstler und Designer Friedrich Kiesler gefordert und Time's Up damit einen Polarstern auf den Geschichtenhimmel gesetzt. Geschichten entstehen aus verschiedenen Wirklichkeiten, und sie erschaffen verschiedene Wirklichkeiten (aus denen wieder neue Geschichten hervorgehen können).
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Time's Up erschafft Wirklichkeiten als begehbare Geschichten, zumeist als unsichtbare ErzählerInnen, die aus respektvoller Distanz eine Wirklichkeit bereitstellen, die sich die BesucherInnen mit ihren eigenen Geschichten erklären dürfen, sollen und können. Manchmal schlüpft Time's Up aber auch selbst in der eine Rollen in der Story, bleibt dabei jedoch peinlich darauf bedacht, den Interpretationsspielraum und die erzählerische Freiheit des Publikums nicht zu beschneiden.
In dieser Form zu erzählen, heißt darüber hinaus, ganze Tagebücher für und Liebesbriefe von fiktiven Charakteren zu schreiben, Radiofeatures und Nachrichtensendungen herzustellen sowie ganze Zeitungen oder Kollektionen von Zeitungsartikel zu produzieren.
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Narration ist ein Verfahren, dem Sinn und Wesen der Dinge auf die Spur zu kommen. Doch oft stellt sich im Erzählen heraus, dass es in oder hinter den Dingen gar keinen Sinn gibt. Die 'reale' Geschichte strotzt vor Zufällen und Begebenheiten, die die dramaturgische Endkontrolle einer fiktiven Erzählung gar nicht passieren würden: zu unglaubwürdig, zu sprunghaft, zu zusammenhanglos. Aber selbst wenn eine Story stimmig und schlüssig erscheint, ist sie an mindestens einer Stelle lückenhaft. Irgendetwas fehlt immer, bleibt ausgeblendet. Das sind die weißen Flecken auf der narrativen Landkarte, der tote Winkel der Erzählperspektive. Wer kann die Lücken schließen? Die ErzählerInnen können es nicht, sie sind ihrer Geschichte zu sehr verhaftet. Doch das Publikum kann es. Indem es die Leerstellen mit seinen eigenen Geschichten füllt.
Time's Up and Narration
The best stories continue to be written by life, that creates its own truth with its stories. Storytelling is closely related to the truth. Who knows maybe the two are sisters? Storytelling serves the purpose of inventing the truth. Also in that a story when it is repeated finds its true form, and one agrees on the truth of the story being told, while it is told. Until you can say with conviction: This is how it was. So it can happen that the truth appears to subvert the story. In such a case Time’s Up relies on Mark Twain’s approach who proclaimed the following principle of storytelling: *Never let the truth get in the way of a good story.* Or an even more radical take from the indigenous writer and poet Simon Joseph Oritz: *There is no truth, there are only stories* - where we very often find one or the other truth.
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As is slowly implied here the relation between narration and truth is sisterly but not simple. Since the knowledge on neurological processes has deepened it is known that remembering and inventing are identical for the human brain. Therefore: The attempt to remember an incident as truthful as possible, isn’t worth the trouble. An anecdote might as well be reconstructed freely.
This is actually not that difficult. The gift of storytelling is prehistorically human. The homo sapiens is also a homo ludens and a homo narrans, as can be seen convincingly in the circle of people revolving around Time’s Up.
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Probably since language has existed on the corresponding level, humans are attempting to understand and explain the world with stories. Stories are the actual thread to bare the web of human societies and cultures. Stories are worldly magic plays. They feed the soul and the mind, entertain, save knowledge and are just like the story worlds of an accessible future narrative which become true in the moment their character is speculative.
*Enough with the projects - we need realities*, the artist, architect and designer Friedrich Kiesler demanded and thereby placed a polar star on the narrative skies of Time’s Up. Stories develop from different realities, and they create different realities (from which new stories can also emerge).
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Time’s Up creates realities as accessible stories, mostly as invisible storytellers, that provide a reality from a respecting distance, so that visitors are allowed to explain with their own stories. Sometimes Time’s Up slips into characters of the story, but remains scrupulously aware of the interpretational space and the narrative freedom of the audience.
To tell a story in this form means to write whole diaries and love letters of fictional characters.
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Producing radio features and news broadcasts as well as newspapers or collections of newspaper articles is a part of this creative process. Narration is a process to track down the meaning and the being of things. The real story abounds with coincidences and incidents that would never get past the final check of a dramaturgical director in a fictional story: too implausible, too erratic, too incoherent. But even if a story appears to be consistent and logical, there is bound to be a piece missing. There is always something missing that remains concealed. They are the white spaces on the narrative map, the dead angle of the storytelling perspective. Who can fill in the missing pieces? The storyteller can't; they are too bound to their stories. But the audience can. By filling the empty spaces with their own stories.